In der Regel ist man um 17:00 Uhr Zuhause. Feierabend! Man hängt ab, kümmert sich um die Familie, frönt einem Hobby oder gönnt sich ein Feierabendbier. Nicht so, wenn man Ratsmitglied ist, dann muss am Abend der Turbo erneut angeworfen werden.
Mammutprogramm
So auch am 14. Februar, 17:00 Uhr. Im Ratsinformationssystem erfährt man, dass für die erste Ratssitzung zirka 80 Punkte auf der Agenda stehen, ein wahres Mammutprogramm. Einer der Schwerpunkte: Verabschiedung des Haushaltes 2019. In unserer kleinen Nachlese konzentrieren wir uns auf diesen Punkt und einiges, was wir zwischen den Zeilen wahrnehmen.
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Um 17:08 Uhr beendet der Bürgermeister den Feierabend und eröffnet die Sitzung. Von der randvollen Zuschauertribüne hat man einen guten Überblick, leider schaut man den Ratsmitgliedern in den Rücken. Ab und zu dreht sich mal einer um und schaut zu uns herauf. Am häufigsten drehen sich die SPD-Genossen um, vermutlich möchten sie wissen, wie lange ihre Wähler noch anwesend sind.
Paukenschlag
Der SPD-Fraktionsvorsitzende eröffnet seine Haushaltsrede mit einem Paukenschlag: „Wir haben die Stadt positiv nach vorne gebracht!“ Zur Erinnerung: Seit die Erde keine Scheibe mehr ist, ist die SPD in Lünen am Ruder. Die Lippestadt ist mit rund 330 Millionen Euro in den Miesen. In Worten – Dreihundertunddreißig Millionen Euro. Für Fans der D-Mark: 645 Millionen.
Unbeirrt fährt er weiter fort mit einer Merkel-Anleihe: „Wir schaffen das“, tönt er. Was das genau ist, lässt er vorsichtshalber offen. Vielleicht meint er die vier Gerätehäuser der Feuerwehr, die in vier Jahren gebaut werden sollen. Dann beklagt er, dass der Bürgermeister die Politik nicht mitnehmen würde. Wohin er mitgenommen werden möchte, sagt er uns nicht.
11 Minuten
Als nächstes ist die CDU dran. Die Fraktionsvorsitzende kündigt an, dass ihre Rede genau elf Minuten dauern werde. Erlaubt sind 10 Minuten. In ihrem Redebeitrag plus 10 Prozent nimmt sie den Bürgermeister ebenfalls aufs Korn, spricht vom „Flurfunk“ im Rathaus, wenig Vertrauen des Bürgermeisters in die Mitarbeiter und davon, dass es immer schwieriger sei, offene Stellen nachzubesetzen. Auch sehe man die Gefahr, dass vorhandenes Personal abwandere.
Keksdosen
Dann ist die GFL (Gemeinsam für Lünen) am Start. Der Vorsteher beginnt höflich und grüßt sogar die Zuschauer. Die CDU zeigt sich mit einer Extraportion Humor. Während der GFL-Boss in der Bütt steht, wandern durch die CDU-Reihen zwei Keksdosen. Soll das heißen, dass der Büttenredner ihnen auf den Keks geht? Das wäre eine geniale Choreografie. Der GFL-Prinzipal lässt sich nicht beirren und kanzelt SPD und CDU mit der Bemerkung ab, die Stadt heruntergewirtschaftet zu haben. Im gleichen Atemzug dankt er allen Abteilungen in der Verwaltung und dem Bürgermeister. Die nehmen das regungslos zur Kenntnis.
Grüner Pullover
Etwas Abwechslung verspricht der Auftritt des Bündnis90/Die Grünen-Chef. Er ist der Farbtupfer des Abends mit seinem Parteidress „Grüner Pullover“. Wenigstens die Grünen stimmen dem Haushalt nicht zu. Es wird beklagt, dass falsche Prioritäten gesetzt werden, bezahlbarer Wohnraum fehle, überhaupt, dass alles zu langsam gehe.
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Dass sehr viel kostbare Zeit verplempert wird, zeigt sich später am Punkt der anzuschaffenden vier Feuerwehrhäuser. Bereits Tage vorher im Fachausschuss für Sicherheit und Ordnung besprochen und sogar einstimmig beschlossen, wird das Thema erneut aufgemacht und irrsinnig lange diskutiert. Was soll das? Dann soll sich keiner beschweren, dass die Sitzungen bis in die Nacht dauern – selbst Schuld!
Flaschenkinder
Während der Ratssitzung fällt auf, dass der Verwaltungsvorstand die Fläschchen Mineralwasser köpft und aus der Flasche trinkt. Es sind keine Gläser vorhanden. Das ist der kulturelle Tiefpunkt der Sitzung. Steht Lünen unmittelbar vor der Insolvenz? Mussten die vorhandenen Gläser bei Ebay verscherbelt werden? Berät Schuldnerberater Zwegat eigentlich auch ganze Städte?
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Mittlerweile ist es 19:00 Uhr. Der Mund ist trocken. Es gibt immer noch keine Pause. Man spürt auf der Besuchertribüne deutlich, wie die Konzentration im Saal abnimmt, es wird zunehmend unruhiger. Auf der Empore geht der erste Besucherblock raus, vermutlich um der drohenden Dehydrierung zu entkommen. Getränke für das Volk? Fehlanzeige.
Auch wenn der Zeiger steht, die Zeit vergeht
Zitat: Ingo Insterburg
19:38 Uhr. Der Kämmerer schaut auf die Uhr. Er möchte sicher nach Hause, darf aber nicht. 24 Minuten später schaut der nächste Beigeordnete auf die Uhr, auch er muss bleiben.
Um 19:50 fragt ein Ratsmitglied mit Blick auf die vorgerückte Stunde vorsichtig nach, ob die Verwaltung an Übernachtungsmöglichkeiten gedacht habe. Das sollte ein kleiner Scherz sein. Der Bürgermeister ringt sich ein müdes Lächeln ab.
Gelber Pullover?
Auf die Parteiuniform, gelber Pullover à la Genscher, verzichtet das FDP-Oberhaupt in seiner Haushaltsrede. Er zollt dem Kämmerer großes Lob und Anerkennung für seine Arbeit.
mehr Bürgerbeteiligung
Auch der Anführer der Piraten/Freie Wähler dankt dem Kämmerer brav für dessen hervorragende Arbeit. Was ist mit denen los? Von Meuterei auf der Lippe ist man meilenweit entfernt. Immerhin mahnt man an, dass die Stadt in Sachen Bürgerbeteiligung mehr tun solle.
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Den Linken scheint der Haushalt suspekt zu sein, man stimmt nicht zu, man lehnt nicht ab, man enthält sich. Die Zinswetten mit dem Verlust von 34 Millionen Euro werden nochmals angesprochen. Niemand zuckt.
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Nach geschlagenen drei Stunden ist um 20:10 Uhr die erste Pause. Nach 6 ½ Stunden endet die erste Ratssitzung um 23:30 Uhr.
Nehmerqualitäten
Auffällig, dass dem Bürgermeister die harsche Kritik an seiner Amtsführung nichts anhaben konnte. Er ging mit keiner Silbe auf die Bemängelungen der Parteien ein. Das nennt man Nehmerqualitäten. Allerdings ging er auch nicht zum Gegenangriff über. Möglicherweise lag es daran, dass er in der Königsdisziplin „Stadtverwaltung“ im Ring noch als Neuling gilt. Der Mundschutz muss vielleicht noch etwas angepasst werden.
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