Einmal Einzelkind – immer Einzelkind?

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war ich Einzelkind. Dann zogen Bärbel (5) und Christel (4) in unsere Straße – drei Häuser weiter.

Als Einzelkind hat man es nicht leicht. Es wird einem eingetrichtert, dass man nicht teilen kann, ist Muttersöhnchen von klein auf, verwöhnt, unsozial und ichbezogen. Bis dieser Schandfleck verblasst, vergehen Jahrzehnte. Es stimmt: teilen konnte ich auch nicht. Was auch? Es gab nichts, was ich hätte teilen können.

Stabilbaukasten

Als Nachkriegskind mit Eltern, die nicht auf Rosen gebettet waren, war ich froh, wenn ich mit ein paar Wiking-Autos und Cowboy- und Indianer Figuren spielen konnte. Etwas später kam ein Stabilbaukasten aus der Ostzone dazu. Ja, das hieß damals Ostzone. DDR musste man erst viel später sagen. Mit dem Stabilbaukasten konnte ich mir einen Bagger zusammenschrauben und so vom Rand des Küchentisches die Schätze vom Linoleumfußboden mühsam nach oben kurbeln.

Berufswunsch: Baggerfahrer

Mein erster Berufswunsch war logischerweise: Baggerfahrer. Neunzig Prozent aller Berufswünsche bei uns Männern entstehen in der Küche. Die restlichen zehn Prozent im Wohnzimmer. Dort war zumeist die Eisenbahn aufgebaut. Für eine Modell-Eisenbahn hat es nicht gereicht. War einfach unerschwinglich. Die von Fleischmann fand ich prima. Die hatte schönere Gleise als die von Märklin. Schon damals hab ich viel Wert auf Qualität gelegt.

Bärbel und Christel

Als ich sechs Jahre war, bekam ich doch noch unerwartet Geschwister, quasi über Nacht: Bärbel und Christel. Ich wohnte in Minden, an der Marienstraße 138 und meine neuen Schwestern in Nummer 144. Bärbel war fünf und Christel vier Jahre alt. Wir spielten jeden Tag zusammen und waren unzertrennlich.

Eintrag ins Klassenbuch

Dann wurde ich eingeschult. Auf die Frage meines Klassenlehrers, ob ich Geschwister hätte, antwortete ich wahrheitsgemäß mit: „Ja, Bärbel und Christel.“  Das wurde im Klassenbuch vermerkt. Der Geschwisterstatus hielt nicht ewig. Zum Einzelkind wurde ich erst wieder, als meine Mutter ein halbes Jahr später zum Elternsprechtag erschien und der Lehrer fragte, wann meine Schwestern Bärbel und Christel eingeschult würden. Mutter hat wahrscheinlich etwas sparsam geguckt, sich entschuldigt sich und mich wieder zum Einzelkind degradiert.

Diese blöden Erwachsenen. Von nichts eine Ahnung. Aus Trotz habe ich Bärbel dann geheiratet. Es war eine Blitzhochzeit. Wir brauchten keine Kirche und kein Standesamt. Was ist das überhaupt? Uns hat die Hofeinfahrt gereicht. Beförderung von der Schwester zur Ehefrau. Die kleinere, Christel, bekam ebenfalls einen neuen Dienstgrad und wurde auf Kind eingenordet.

Milch-Bulli

Bärbel und Christel wohnten im ersten Stock. Im Erdgeschoss wohnte ihr Onkel oder Opa. Der war Milchmann und fuhr Milch durch die Gegend. Als er mit seinem Milch-Bulli nach Hause kam, reichte er uns aus dem Führerhaus eine Kanne mit frischer Milch. Das war gewissermaßen unser Hochzeitsgeschenk.

Crème Brûlée

In unseren Förmchen mit Sand wurde Milch untergerührt und so hatten wir die ostwestfälische Frühversion von Crème Brûlée. Viel später wurde das leckere ostwestfälische Dessert Crème Brûlée nach Frankreich exportiert. Das ist die wahre Geschichte. Die wirklichen Gourmets kommen aus der norddeutschen Tiefebene.

Doktorspiele

Nach der kurzen Hochzeitsreise mit unseren Dreirädern bis zum Nordfriedhof in hundert Meter Entfernung beschlossen wir, die Gesundheit nicht zu vernachlässigen. Was lag näher, als dass der treu sorgende Gatte einen Crashkurs in Allgemeinmedizin absolvierte. Nach knapp fünf Minuten war ich nicht nur Gemahl, sondern auch Hausarzt. Auf den Treppenstufen, die mit zwei Handwischbewegungen sorgfältig desinfiziert wurden, kamen nacheinander meine Frau und dann die Tochter in die Sprechstunde. Von den Erwachsenen wurden diese Behandlungen mit verächtlichem Unterton als „Doktorspiele“ abqualifiziert. Wenn ich heute über meine damaligen Behandlungsmethoden nachdenke: Ich hätte alle Fachrichtungen einschlagen können – außer Homöopathie.

Geheimhaltung

Als Internist fürs Grobe habe ich auf der drittuntersten Treppenstufe des Hauseingangs praktiziert. Von der Straße aus konnte man meine medizinischen Gesundheits-Check-ups an den Patientinnen nicht einsehen. Schon damals fühlte ich mich zur absoluten Geheimhaltung verpflichtet.

Bigamie

Wir haben uns später irgendwie aus den Augen verloren. Wenn ich mich recht erinnere, führten wir eine glückliche Ehe. Manchmal war das Kind etwas störrisch und musste bestraft werden. Soweit ich weiß, haben wir uns nicht scheiden lassen, denn damals wussten wir gar nicht was das ist. Bei der heutigen Rechtssprechung bin ich mir manchmal nicht mehr ganz sicher, ob man mich nicht doch noch wegen Bigamie anklagen könnte.

Bis heute bin ich noch immer Einzelkind. Dass Bärbel und Christel eines Tages vor meiner Haustür auftauchen und anteilige Rentenzahlungen einfordern, ist relativ unwahrscheinlich. Ich hätte doch Baggerfahrer statt Ehemann und Hausarzt werden sollen. Mit wäre viel erspart geblieben.

Die Welt ist ungerecht

Mittlerweile kann ich sehr gut teilen. Blöd nur, dass heute keiner mehr was von mir haben will. Die Welt ist ungerecht, besonders zu uns Einzelkindern.

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